Antarktisches Schelfeis doch stabiler als gedacht: Potsdamer Alarmgeschichte vor dem aus

Das antarktische Schelfeis besteht aus großen Eisplatten, die auf dem Meer schwimmen und mit der antarktischen Inlandeiskappe fest verbunden sind. Es gibt zwei Haupt-Schelfeise, Ronne-Filchner und Ross (Abbildung 1). Dazu gesellen sich noch eine Reihe kleinerer antarktischer Schelfeisgebiete.

Abbildung 1: Schelfeis in der Antarktis. Quelle: Wikipedia.

 

Das Schelfeis wirkt dabei wie ein Sperr-Riegel, der das dahinterliegende Inlandeis zurückhält und bremst. Wie gut funktioniert dieser eisige Sicherheitsgurt heute noch? Müssen wir uns Sorgen machen, dass schon bald die antarktischen Gletscher zügellos in den Antarktischen Ozean rauschen und den Meeresspiegel ansteigen lassen?

Ein solches Horrorszenario hat vor vier Jahren der Klimaforscher Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in der Öffentlichkeit verbreitet. In einem Blogbeitrag im PIK-nahen Klimalounge-Blog warb der Rahmstorf-Instituts-Kollege vor drastischen Folgen für das antarktische Schelfeis, wenn nicht schnellstens eine „fundamentale Veränderung der globalen Energieversorgung“ eingeleitet werde. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass Levermann auch mit dem IPCC eng verbandelt ist und im aktuellen Klimabericht als Leitautor tätig ist. In einem kurz darauf erschienenen Nachtrag mit dem Titel „Haltloses Eisschelf – Updated“ im gleichen Blog legte Levermann nach und schrieb:

Kürzlich wurden hier Simulationen der Antarktis vorgestellt. Diese zeigen, dass der Verlust des Ross Eisschelfs vor ca. 3 Millionen Jahren zum Kollaps des Westantarktischen Eisschilds und sieben Meter Meeresspiegelanstieg geführt hat. […] Für eine gesicherte Aussage, ob sich der Rückgang der Eisschelfe beschleunigt, sind die Beobachtungszeitreihen nicht ausreichend. 

Laut theoretischen Simulationen sollte das Schelfeis also in absehbarer verschwinden. Levermann gibt allerdings zu, dass diese Modelle noch nicht mit harten Mess-Daten abgeglichen werden konnten. Im Rahmen der PIK-Eisschelf-Öffentlichkeitskampagne wurde dann eine PIK-Doktorandin ins Rennen geschickt, die dem evangelischen Online-Magazin Chrismon in einem Interview überraschende Dinge erzählte:

Klimawandel: Das Eis rutscht ins Meer
In zehn Jahren… ist die Erde noch viel wärmer als heute sagt die Klimaforscherin Maria Martin. Beweisen kann sie dies mit Hilfe von Computermodellen. 

CHRISMON: Ist es in der Antarktis wärmer geworden?

MARTIN: Davon ist auszugehen, auch wenn die direkten Messdaten in der Antarktis nicht sehr weit zurückreichen. 2002 ist ein großes Eisschelf kollabiert, es ist einfach zerbröselt. Vermutlich, weil sich dort Schmelzwasser gebildet hatte.

Computermodelle als Beweis? Eine gewagte These. Selbst der IPCC gibt zu Bedenken, dass Computermodelle lediglich Szenarien darstellen, niemals jedoch als Beweis gelten können. Kein guter Einstieg. Gleich darauf der nächste Klopper: Ist es in der Antarktis wärmer geworden? Die Polarforscherin bejaht, hält sich aber mit einem Hinweis auf angeblich beschränkte Temperaturmessdaten ein Hintertürchen offen. Schauen wir uns doch einmal diese „beschränkten Messdaten“ näher an (Abbildung 2). Laut RSS-Satellitendaten ist es in der Antarktis seit Beginn der Messreihe 1979 eher kälter als wärmer geworden. Offensichtlich liegt die PIK-Doktorandin hier ziemlich falsch mit ihrer Vermutung. Ihr abschließender Hinweis auf einen vorangegangenen Eisschelf-Abbruch ist auch nicht gerade erhellend. Diese Abbrüche sind Teil des eisigen Transportförderbandes, das zu Eis gewordenen Schnee aus dem Inneren des 7. Kontinents an die Küste transportiert. Der angesprochene Eisschelf-Kollaps hat ungefähr den gleichen Informationswert wie ein Sack Reis, der in China umgefallen ist.

 

Abbildung 2: Temperaturentwicklung der Antarktis seit 1979 laut RSS-Satellitendaten (untere Kurve). Die obere Kurve stellt die entsprechende Entwicklung in der Arktis dar. Quelle: climate4you.

 

Den Schlussakkord der Potsdamer Eisschelf-Katastrophenkampagne setzten dann am 11. Mai 2013 die Neuen Potsdamer Nachrichten (PNN). Lesen Sie selbst:

Kettenreaktion in der Antarktis befürchtet
Noch in diesem Jahrhundert droht ein gewaltiger Eisrutsch in einer antarktischen Region, die bislang als kaum beeinflusst vom Klimawandel galt. Zu diesem Schluss kommen deutsche Forscher mit gleich zwei Modellsimulationen. Anders als angenommen wirke sich der Klimawandel auch auf das Weddellmeer aus, das größte Randmeer des Südlichen Ozeans am antarktischen Kontinent, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature“. Die warmen Wassermassen setzten dort dem Filchner-Ronne-Schelfeis heftig zu. […] Die gewaltige Eisplatte werde rapide zu schmelzen beginnen und sich bis zum Ende des Jahrhunderts auflösen, schreiben die Awi-Forscher über ihre Berechnung. In der Folge könnten große Mengen von Inlandeis in den Ozean abrutschen, da das Schelfeis als Barriere wegfalle. Dies wiederum würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels führen. „Schelfeise sind für das nachgelagerte Inlandeis wie ein Korken in der Flasche“, erläutert Awi-Ozeanograph und Erstautor der Studie, Hartmut Hellmer. „Sie bremsen die Eisströme, weil sie in den Buchten überall anecken und zum Beispiel auf Inseln aufliegen.“ 

Auch eine zweite, im Fachmagazin „Nature Geoscience“ veröffentlichte Studie weist auf eine solche Entwicklung hin. Die Wissenschaftler um Martin Siegert von der britischen Universität von Edinburgh hatten per Georadar (Radio Echo Sounding, RES) die Dicke zweier Eisströme analysiert, die das Filchner-Ronne-Schelfeis speisen – und daraus auf die Bodenbeschaffenheit darunter geschlossen. Demnach existiert in der Region ein großes, steil abfallendes Becken mit glattem Grund – das einem Eisrutsch wenig entgegensetzen würde. Die Schmelzrate werde von heute fünf Metern jährlich bis zur Jahrhundertwende auf bis zu 50 Meter pro Jahr steigen, schätzt AWI-Ozeanograph Jürgen Determann. Wie im Fall einer solchen Megaschmelze das hinter dem Schelfeis liegende Inlandeis reagieren wird, sei noch offen. Die Forscher nehmen aber an, dass es sich in Bewegung setzen und immer schneller nachrutschen wird. Falls das schmelzende Eis komplett von nachfließendem Inlandeis ausgeglichen werde, entspreche dies einem zusätzlichen Meeresspiegel-Anstieg von 4,4 Millimetern pro Jahr. 

Dankbar griffen auch andere Medien diese Story auf, so etwa die Augsburger Allgemeine und der Spiegel. Allerdings wurde es in der Folge relativ still um die antarktische Eisschelf-Katastrophe. Irgendwie hatte man in Potsdam und verbundenen Institutionen die Lust am Thema verloren. Was war passiert?

Es dauerte keinen Monat nach der Potsdamer Kampagne, da meldeten sich die ersten Fachkollegen mit unangenehmen Fakten in der Öffentlichkeit zu Wort. Ein Forscherteam um Tore Hattermann vom Norwegischen Polar Institut veröffentlichte eine Studie, in welcher massive Fehler in den damals verwendeten theoretischen Schelfeismodellen nachgewiesen werden konnten. Hattermann und Kollegen wuchteten eine 12-Tonnen schwere Bohranlage auf die Oberfläche des antarktischen Fimbul Eisschelfs und durchbohrten damit in einer aufwendigen Operation die mehr als 200m dicke Eisplatte an drei Stellen. Unter dem Eis führten sie dann Temperaturmessungen durch und erzeugten Daten, die es so in dieser Form bislang nicht gegeben hat. Dabei stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass die klimatischen Schelfeismodelle eine viel zu hohe Temperatur unter dem Eis angenommen hatten. In Wirklichkeit war das Wasser unter dem Schelfeis deutlich kühler. Der von den Modellen postulierte Massenverlust des Eischelfs ließ sich aufgrund der neuen harten Temperatur-Kallibrierungsdaten nicht mehr aufrecht erhalten. Vielmehr scheint sich die Masse des Eisschildes derzeit kaum zu ändern, wie das Team um Hattermann in der in den Geophysical Research Letters erschienenen Arbeit zeigen konnte.

Einige Wochen später kam es für die Potsdamer noch dicker: Im September 2012 erschien im Fachmagazin The Cryosphere eine Arbeit einer Forschergruppe der University of California Irvine um Bernd Scheuchl. Die Wissenschaftler verglichen dabei Radarinterferometriemessungen der antarktischen Ross und Ronne Eisschelfe aus den Jahren 1997 und 2009. Hieraus ermittelten die Forscher Änderungen in der Eisabfluss-Geschwindigkeit der Eisschelfe über diesen 12-jährigen Zeitraum. Die beiden großen Mercer und Whillans Eisströme des Ross Eisschelfs hatten sich um 50 m/Jahr bzw. 100 m/Jahr verlangsamt. Auch die meisten Eisströme die den Filchner-Ronne Eisschelf speisen zeigten eine moderate Verlangsamung. All dies wollte so gar nicht zur postulierten Potsdamer antarktischen Schelfeiskatastrophe passen.

Ganz frisch kommt nun noch ein weiteres Papier hinzu, das sich seit Ende Juni 2013 in den Earth and Planetary Science Letters im Druck befindet. Ein internationales Forscherteam um Christina Hulbe von der University of Otago in Neuseeland dehnte den Untersuchungsraum jetzt sogar noch weiter in die Vergangenheit aus. Anhand von Oberflächengeschwindigkeitsmessungen aus den 1970er Jahren sowie Moderate-resolution Imaging Spectroradiometer (MODIS) Mosaiken aus den 2000er Jahren konnten Christina Hulbe und Kollegen nachweisen, dass sich der allergrößte Teil des Ross Eisschelfs in seiner Bewegung während der vergangenen 30 Jahre verlangsamt hat.

In Potsdam zeigte man sich flexibel und wich zwischenzeitlich einfach auf den indischen Monsun aus. Ein paar Monate Aufmerksamkeit in den Medien sind damit gesichert. Zumindest solange, bis seriöse Fachkollegen die Grundlagen der neuen Alarmgeschichte ernsthaft überprüft haben…

 

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